Holger Douglas

Das genetische Monster: Weizenkorn

Ein Weizenkorn - das Korn, das die Welt in Gang hält. Früher lief der Bauer die Saatkörner mit der Hand in weitem Bogen verstreuend über den Acker, gefolgt von einer Vogelschar, die einen Teil der Körner bereits aufpickten. Heute drillen Präzisionsmaschinen die Körner gleichmäßig in den Boden. Diese Wunder der Technik haben die Ernteergebnisse aus dem Vorjahr im Steuercomputer, um die Korndichte präzise den wechselnden Bodenverhältnissen angepasst dosieren zu können, Precision-Farming genannt. In bis zu 40 Reihen nebeneinander vermögen die größten Einzelkornsämaschinen eine Saatfurche zu ziehen, Saatkörner hineinzulegen und die Furche wieder mit Erde zu bedecken. Mit zehn Kilometer pro Stunde donnern die 18 Meter breiten Kolosse über die Äcker und bereitet das ideale Saatbett. Die berücksichtigen sogar unterschiedliche Verhältnisse auf einem Ackerschlag, in der einen Ecke eher feucht, in der anderen trocken und sandig. Den Verhältnissen angepasst müssen die Saatkörner näher oder mit mehr Abstand in den Boden gelegt werden. Jedes Saatkorn soll später ausreichend Wasser und Nährstoffe aus dem Boden bekommen können. Zwischen 250 und 300 keimende Körner sollen pro Quadratmeter in den Boden gelegt werden – je nach Qualität der Standorte.

Dann spielt sich das Wunder der Natur ab: Die Körner nehmen Wasser auf und quellen auf; dafür ist ein möglichst guter Bodenschluss wichtig, wissen die Landwirte. Die Bodenpartikel rund um das Saatkorn sollten also nicht zu grob sein. Entscheidend ist auch die Saattiefe, in der noch genügend Wasser vorhanden ist, aber andererseits der Pflanze einen schnellen Feldaufgang erlauben muss, also nach oben ans Licht durchdringen zu können. Wenn der Wassergehalt auf 45 bis 60 Prozent angestiegen ist, keimt das Korn. Nach zwei bis drei Wochen sind die ersten Keimblätter auf dem Feld sichtbar. Die Speicherstoffe sind nach einiger Zeit vollständig abgebaut worden. Die Hauptfunktion der Keimblätter, den Embryo mit Nährstoffen zu versorgen, ist somit erloschen.

Die Samen sind so etwas wie Lebewesen in Ruhestellung. Deren Stoffwechselaktivität ist auf ein Minimum beschränkt. Erst wenn Wasser aufgenommen wird, vorhanden ist, wacht der Samen auf, beendet die Keimruhe. Bei anderen Pflanzen ist ein Hormon der Pflanzen für die Keimruhe verantwortlich. Bereits 1865 hat der Botaniker Julius Sachs gezeigt, dass neben dem Licht auch die Temperatur eine entscheidende Rolle spielt, um die Keimruhe zu stoppen und den Samen gewissermaßen zu aktivieren.

Ausreichende Wasserversorgung und geeignete Temperatur – das sind die anregenden Faktoren. Die Samen mancher Gewächse keimen nur bei vollkommener Dunkelheit. Licht hemmt diese »Dunkelkeimer«. Bei »Lichtkeimern« wiederum ist es gerade die Sonne, die den entscheidenden Impuls liefert. Meist reicht bei ihnen eine sehr kurze Bestrahlung aus, um die Keimung anzuregen. Noch ungewöhnlicher sind die »Feuerkeimer«: Sie treiben nur nach einer Brandkatastrophe aus. Ein veritabler Wald- oder Buschbrand erst setzt diese Prozesse in Gang.

Erstaunlich hoch kann der mechanische Druck werden, wenn Samen Wasser aufnehmen, denn die haben eine bemerkenswerte Saugkraft. Trockene Erbsensamen können sogar einen Glasbehälter zerspringen lassen. In früheren Jahrhunderten stachen Schiffe mit trockenen Getreidesorten in See. Gerieten die Schiffe in heftige Stürme, so konnte Wasser in die Lagerräume an Bord eindringen, in denen das Getreide gelagert wurde. Das Getreide quoll so stark an, dass sogar der hölzerne Schiffskörper zerbrach und das Schiff mit Mann und Maus absaufen ließ.

Die Bedeutung des hohen Quelldruckes ist offensichtlich: Die Samen in der Erde müssen große mechanische Widerstände überwinden, um die Bodenpartikel auseinander zu schieben und Raum für ihr Wachstum zu schaffen. Die nächste Phase tritt ein, wenn die Quellung beendet ist und das Wachstum beginnt. Der Mehlkörper ist der mit Stärke gut gefüllte Energietank für die künftige Pflanze, das, was wir als Mehl benutzen. Doch die Stärke muss erst in Zucker umgewandelt werden, diesen Prozess setzt wiederum ein Biokatalysator in Gang.

Im Samen dagegen wandeln Biokatalysatoren die Stärke in Zucker um, den »Treibstoff« für den Keimling. Der Keimling wandelt die Stärke in Zucker um, die eigentliche Energie für den Aufbau des gesamten Körpers. Warum speichert das Weizenkorn seine Energie nicht gleich in Form von Zucker? Der Grund verblüfft: Dann würden sich die osmotischen Verhältnisse ändern. Das Zuckermolekül bindet deutlich mehr Wasser als das Stärkemolekül, die Zelle würden schlicht platzen.

Der Grund dafür ist ein Osmose genanntes Naturphänomen: Der Zucker würde unglaublich viel Wasser anziehen und das Samenkorn zum Zerplatzen bringen. Nun ist diese Osmose aber abhängig von der Zahl der beteiligten Moleküle. Wenn also die Pflanze jeweils Tausende von Zuckermolekülen zu einem Stärkemolekül verbindet, reduziert sie kräftig die osmotischen Probleme.

Der Energievorrat im Mehlkörper des Weizenkorns reicht aus, dass der Keimling eine kleine Wurzel treibt und einen Spross mit einem Keimblatt. Danach versorgt das grüne Keimblatt die Pflanze mit Energie, der Spross beginnt zu wachsen, während der Mehlkörper schrumpft und die leere Samenhülle abfällt. Erstaunlich sind die relativ hohen Wachstumsgeschwindigkeiten von 1 bis 2 mm/h, bei Keimwurzeln wurden Raten von 0,5-1,5 mm/h dokumentiert.

Die Zellen nehmen immer mehr Wasser auf, das Volumen wird erhöht, die Zellen strecken sich in Längsrichtung stärker als in Querrichtung. So wachsen die Stängel und werden zu mechanischen Wunderwerken, elastisch, biegen sich im Wind, ohne zu brechen, sind dennoch so stabil, dass sie den Keimling tragen können. Sie bauen Sekundärwände an, um die Konstruktion mechanisch zu stabilisieren. Denn oben an der Spitze bildet der Keimling Ähren, wird schwerer und droht umzukippen.

Auch die Wurzel trägt ihren Teil zur Standfestigkeit bei. Sie ragt bis zu einem Meter tief ins Erdreich und ist vielfach verzweigt. Die Gesamtlänge aller Wurzeln, Wurzelchen, feinsten Wurzelfasern und damit verwobenen Pilzfäden einer einzigen Getreidepflanze kann eine Gesamtlänge von 10 000 Kilometern erreichen, das entspricht der Entfernung Hamburg-Kapstadt. Ihre gesamte Oberfläche liegt bei 600 Quadratkilometern, entsprechend etwa der doppelten Fläche des Bodensees. Und das bei jeder einzelnen Pflanze von Abertausenden im Acker!

All diese Wurzelteile klammern die Pflanze im Boden fest. Welche Kräfte wachsende Wurzeln ausüben können, lässt sich angesichts von Durchbrüchen von Wurzelwerk durch zum Beispiel dicke Asphaltdecken ermessen. Es handelt sich um außergewöhnlich hohe hydrostatische Drücke in den Zellen, die enorme mechanische Widerstände überwinden können. Doch die exakten physikalischen Prozesse derartiger pflanzlicher Kraftakte sind noch nicht in allen Details aufgeklärt.

In den Wurzelspitzen sitzen Sensoren für ein ganzes Arsenal an Größen wie mechanischer Druck, Feuchtigkeit und sogar für die Schwerkraft. So fallen in der sogenannten Wurzelhaube schwere Partikelchen, Statolithen, aus Stärke oder Kalk immer nach unten und lösen einen mechanischen Reiz aus. So »wissen« die Wurzeln, wo oben und unten ist und wohin sie wachsen müssen. Diese Wurzelspitzen leisten mechanische Schwerarbeit, wenn sie das Erdreich durchbohren. Sie ölen daher ihre Spitze mit einem Schleim und ersetzen die abgenutzten Zellen innerhalb weniger Tage immer wieder durch neue. Sie ändern erstaunlicherweise ihre Wuchsrichtung bereits, bevor sie auf ein Hindernis im Boden stossen. Sie prallen also nicht auf ein Hindernis, sondern umgehen es frühzeitig.

Es sind erstaunliche Sinnesleistungen einer Pflanze. Wurzelspitzen bezeichnete bereits Charles Darwin als »Gehirn« der Pflanzen. Es nimmt nicht viel Wunder, dass mehr Menschen Pflanzen eine Intelligenz, ja sogar ein Bewusstsein zuschreiben wollen. Pflanzenesoteriker betrachten das »geheime Leben der Pflanzen«, und 150-prozentige Naturschutzaktivisten fordern sogar schon, auf das Verspeisen von Salat zu verzichten. »Wer Salat ist, der ist ein Mörder« - so hieß es tatsächlich einst auf Flugblättern.

Der italienische Biologe Stefano Mancuso: »Automatische Reiz-Reaktions-Schemata können den widersprüchlichen Anforderungen, die an die Wurzelspitze gestellt werden, nicht gerecht werden. Doch jede Wurzelspitze allein ist schon ein »Datenverarbeitungszentrum« und arbeitet dazu nicht isoliert, sondern in einem Netz aus Millionen anderer Wurzelspitzen, die zur Community des Wurzelwerks gehören.« Offen ist auch für ihn allerdings noch, wie die Wurzelspitzen zusammenarbeiten. Er glaubt, dass das physische Netzwerk der Wurzeln im Boden offenbar nicht das Entscheidende bei der Zusammenarbeit ist. »Die Signale, mit denen die Wurzelspitzen untereinander kommunizieren, werden aller Wahrscheinlichkeit nicht im Pflanzeninneren weitergeleitet.«

Er bringt das Bild des Ameisenstaates ins Spiel. »Selbst die klugen Ameisen sind schließlich nicht miteinander verbunden, handeln aber dank chemischer Signale absolut koordiniert. Vielleicht verhalten sich Wurzeln ja genauso?« Immerhin bezeichnet er seine Gedanken ausdrücklich als Hypothesen.

Weizen ist, wie Professor Ulrich Kutschera betont, ein »genetisches Monster aus der Steinzeitära«, das in der freien Natur nicht entstanden wäre und ohne die Hilfe des Menschen auch nicht im Freiland überlebensfähig wäre. Dies gilt insbesondere für die durch klassische Züchtung generierten Hochertragssorten der 1960er Jahre.

Ein Bauernsohn aus Iowa hat Millionen von Menschen vor dem Hungertod bewahrt, dennoch kennt ihn kaum jemand: Norman Borlaug, ein amerikanischer Agrarwissenschaftler, der in Mexico ab 1944 Mitarbeiter eines agrarwissenschaftlichen Forschungslabors wurde. Dort entwickelte er neue Getreidesorten und bessere Anbaumethoden, Hochertragssorten verdreifachten die Erträge innerhalb von vierzig Jahren. Eine seiner wesentlichen Leistungen: Düngung liess die Ähren des Weizens größer und damit schwerer werden. Die langen Halme knickten leicht um. Borlaug gelang es, im Weizenkorn die Geninformation so zu verändern, dass der Weizen kürzere Halme bildete. Mit ihren kurzen Stängeln blieben die Halme stehen.

Eine Folge: In Indien stiegen die Weizenerträge von 12 auf 76 Millionen Tonnen. 1960 galten 40 Prozent der Menschheit als unterernährt, heute 17 Prozent. Imposant die ungeheuren Ertragssteigerungen auf dem Acker: Um 1850 holten die Bauern von einem Hektar Erträge von zehn bis zwölf Dezitonnen. Die steigerten sich langsam auf 16 bis 22 Tonnen dt um 1900, nach 1950 auf 2,6 bis 3,3 Tonnen. Derzeit sind es 70 bis 75 dT.

Mechanisierung der Landwirtschaft, hoher Wissensstand der Landwirte und ein präziser dosierter Einsatz von Düngemitteln sowie die Bekämpfung von Unkraut - darauf beruhen die großen Fortschritte in der Landwirtschaft. Die Folge: Ein Industriearbeiter kann sich heute die doppelte Menge Brot von vor 70 Jahren kaufen. Denn die Brotpreise sind in den vergangenen 70 Jahren nur um das 12-fache angestiegen, demgegenüber verdient ein Industriearbeiter das 23-fache mehr als 1950. Der Weizenpreis selbst macht heute bei einem Brot mit nur noch sechs Prozent einen geringen Teil des Preises aus.

Fatal wird sich allerdings die neue Düngeverordnung auswirken. Die Menge des erzeugten Weizens reicht bereits jetzt nicht für eine Versorgung Deutschlands aus. Rund 15 Prozent müssen importiert werden. Diese Menge dürfte sich erhöhen, weil aufgrund der Düngeverordnung die Düngemengen drastisch reduziert werden müssen, das lässt die Erträge sinken. Weizen droht knapp zu werden, haben doch bereits einige Länder Exportstopps für Weizen verhängt. Die reduzierten Weizenmengen in Deutschland lassen ebenfalls die Preise steigen. Gleichzeitig gehen die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe vermehrt pleite.

Zurück zur reinen, ursprünglichen Natur des Weizenkorns? Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung sind jedoch schon immer Produkte menschlicher Aktivitäten. Die frühen Bauern, die vor 10 000 Jahren jene Getreideähren auswählten, die am meisten Ertrag lieferten, taten die ersten Schritte. Die alten Ägypter wählten Pflanzen mit besonders herausragenden Merkmalen wie zum Beispiel große Körner aus und kreuzten die mit ihren Artgenossen. So konnten sie Erträge steigern, doch handelt es sich dabei um nichts anderes als um Gentechnik. Allerdings im Blindflug – heute mit viel Wissen und neuen gentechnischen Methoden wie CRISPR/Cas9 genau, präzise und schneller.

Heute werden weitere Ergebnisse der Grünen Gentechnik neue Sorten sein, die gegenüber Hitze, Kälte und Trockenheit resistenter als heutige sein werden. Und Kritik an Grüner Gentechnik, so betonte Borlaug immer wieder, sei eine Diskussion der Reichen auf Kosten der Armen, von Menschen, die mit vollen Mägen zu Bett gingen. Heute haben grüne Wohlstandskinder die Ursprünge der Agrarpolitik der damaligen EWG vergessen: billige Lebensmittel für die Menschen zu garantieren, die noch vom Hunger der Kriegs- und Nachkriegsjahre geprägt waren. Friedrichs Engels übrigens wollte sogar eine »Demokratisierung des Fleischverzehrs«.

Jener Übergang vom Jäger zum Ackerbauern brachte einen großen Vorteil: Nahrungsmittel konnten erstmals gelagert werden, die Stärke im Korn liess sich als Energievorrat aufbewahren, also das, was auch die Pflanze macht. Menschen hatten erstmals über einen längeren Zeitraum etwas zu essen und waren nicht von wechselhaftem Jagderfolg abhängig.

Könnte heute die Weltbevölkerung nur mit Wildgewächsen ernährt werden? Nein. Borlaug ging vor seinem Tod vor elf Jahren noch davon aus, dass aufgrund der Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft zehn Milliarden Menschen ernährt werden können. Heute setzen Fachleute diese Zahl bei 15 Milliarden Menschen an.

Als Folge moderner Technik stehen heute so vielen Menschen wie noch nie saubere, gesundheitlich unbedenkliche und preiswerte Lebensmittel zur Verfügung. So hängen Lebensmittelreichtum oder - Knappheit, Preise und Hunger mit einem kleinen Wunderwerk Weizenkorn zusammen.

6. April 2022

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