Ralph Thiele

Corona und die Sicherheit

... die Welt im Griff

Schon bevor COVID-19 kam, war die Welt aus den Fugen. Die USA rangen mit China um die Vormachtstellung in der Welt – mit überraschend guten Karten für China in Wirtschaft und Wertschöpfungsketten, Forschung und neuen Technologien. Russland hatte sich vom Katzentisch erneut auf die Weltbühne hochgekämpft und sorgte den Westen mit hybriden und militärischen Fähigkeiten, insbesondere in den Feldern Cyber- und Informationskrieg. Iran ließ trotz aller Sanktionen die vormals übermächtige U.S. Präsenz im Nahen und Mittleren Osten vergessen. Nordkorea baute ungeniert sein nukleares Potenzial aus. Und dann waren da noch die Migrations- und die Flüchtlingskrise, Klima und erneuerbare Energien.

Inzwischen hat das Corona Virus die Welt fest im Griff. Plötzlich spielen die vormaligen Themen in der öffentlichen Wahrnehmung und möglicherweise auch in den Köpfen der Regierenden kaum noch eine Rolle. Gesundheitsthemen stehen an erster Stelle. Das mag ein gravierender Fehler sein, denn „dunkle Gestalten“ in Politik und Streitkräften, Wirtschaft und Gesellschaft, organisierter Kriminalität und Terrorismus sind dieser Tage in Goldgräber-Stimmung. Politisch motivierte Verschwörungstheorien machen die Runde. Organisierte Kriminalität boomt. Die Europäische Union sieht durch infolge der Corona-Krise angeschlagene europäische Unternehmen in Gefahr vor asiatischen und weiteren Schnäppchenjägern. Wird es demnächst Terroristen geben, die mit dem Virus infiziert sind und ihn absichtsvoll verbreiten?

... Bewährungsdruck

Derzeit mobilisieren wir in Deutschland enorme Ressourcen, um das Virus und seine Folgen zu bekämpfen. Nicht nur unser Gesundheitssystems, sondern auch unsere gesellschaftliche und gesamtstaatliche Resilienz stehen unter Bewährungsdruck. Offensichtlich hätten wir besser vorbereitet sein können. Die existentielle Bedrohung durch eine Pandemie ist schon lange ein Thema der öffentlichen Sicherheit, auch in Deutschland und Europa.

Die Johns-Hopkins-Universität, die täglich Entscheidungsträgern und der Weltöffentlichkeit die neuesten Corona-Statistiken bereitstellt, war schon vor über einem Jahrzehnt in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten vorstellig, um auf kommende Pandemien und erforderliche Vorbereitungen hinzuweisen. Auch in Deutschland gab es diesbezügliche Analysen und Empfehlungen. Der Bericht der Bundesregierung zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 widmet ein ganzes Kapitel sowie über 30 Seiten Empfehlungen, die heutige Erfahrungen mit COVID-19 vorwegnehmen, einer „Pandemie durch das Virus Modi-SARS“.(1) Man darf überrascht sein, wie wenig sich diese Empfehlungen in der Vorbereitung des deutschen Gesundheitswesens auf eine Pandemie widerspiegeln.

Immerhin, die Corona-Krise trifft Deutschland unter vergleichsweise günstigen Rah­menbedingungen. Eine funktionsfähige Verwaltung, stabile Sozialsysteme, ein robustes Gesundheitssystems sowie das volkswirtschaftlich eminent wichtige Instrument der Kurzarbeit stützen die Resilienz in Deutschland bislang verlässlich. Dennoch entdeckt man täglich neue Defizite und Herausforderungen. Der Staat und seine Bürger lernen aus erster Hand, wer und was in einer Krise systemrelevant ist.

... Desinformation

Regierungen und deren Repräsentanten stellen Aktionspläne zur Bekämpfung von COVID-19 im Fernsehen und im Radio vor. Die klassischen Medien geben ihre Echos online. Die alarmierte Bevölkerung kommuniziert über soziale Medien. Politische Gegner aus dem In- und Ausland mischen gefälschte Nachrichten darunter oder biegen Narrative zurecht, um sie eigenen radikalen Zielsetzungen anzupassen. Es ist nicht überraschend, dass mit Blick auf ein tödliches Virus, für das es bislang noch kein Heilmittel gibt, Menschen und Gesellschaften verwirrt und verängstigt sind; dass sie zur leichten Beute von Desinformationen werden. Die menschliche Natur sucht nachvollziehbare Erklärungen.

Der Europäische Auswärtige Dienst wertet im Kontext von COVID-19 Desinformationsaktivitäten aus, die Mitgliedstaaten sowie die Europäischen Union insgesamt betreffen.(2) Danach nehmen Desinformation und Fehlinformation rund um COVID-19 weltweit zu, mit potenziell schädlichen Folgen für die öffentliche Gesundheit, das Vertrauen in staatliche Institutionen und eine wirksame Krisenkommunikation. So versuchen insbesondere staatliche und staatlich unterstützte Akteure, gefährdete Minderheiten als Ursache der Pandemie darzustellen und Misstrauen in die Fähigkeit demokratischer Institutionen zu schüren, dass diese der Pandemie wirksam begegnen können. Einige Staaten versuchen im Schatten der Pandemie, ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen.

Mit deutlichem zeitlichem und zahlenmäßigem Vorsprung ist Russland ein Hauptakteur der Desinformation. Putin lässt bereits seit über einem Jahrzehnt in sozialen Medien das Thema „Gesundheitswesen“ bereedern. Ganze Desinformations-Salvos verbreiten Falschmeldungen zur Wirkung von Schutzimpfungen und der Herkunft von Aids, Ebola, etc. Mit Blick auf COVID-19 wurden von der EU seit dem 22. Januar 2020 über 150 Fälle von Desinformation russischer Herkunft erfasst. In den Zielgruppen finden Verschwörungsgeschichten wie "das Virus wurde von Menschen gemacht" oder „absichtlich verbreitet“ besonders breites Interesse. RT – das vormalige „Russia Today“ – sowie Sputnik Deutschland stehen unter den verbreitenden Medien an erster Stelle. Sputnik wirbt z.B. auf Facebook und Twitter für die Behauptung, dass "Händewaschen nicht hilft". Die staatlich kontrollierten russischen Medien heben demgegenüber die russische Hilfsbereitschaft bei der Bekämpfung des Ausbruchs hervor. So wurde über die russische Hilfe für Italien ausgiebig berichtet.

China folgt in Russlands Fußstapfen, allerdings durchaus mit eigenständigem Zuschnitt. Staatliche Medien und Regierungsvertreter verbreiten bevorzugt eine Verschwörungstheorie, nach der das US-Militär für den Import des neuen Corona Virus nach China verantwortlich sei. Chinesische Berichterstattung hebt auch die Dankbarkeit hervor, die führende europäische Politiker für die chinesische Hilfe zeigen.

Darüber hinaus gibt es in einigen Ländern Afrikas in Verbindung mit der Pandemie Hasskampagnen gegen soziale und ethnische Gruppen. Im Mittleren Osten ermutigt Daesh Militante, das Chaos und die Verwirrung um COVID-19 auszunutzen, während es die Pandemie als eine "schmerzhafte Strafe" gegen "Kreuzfahrernationen" präsentiert. Das syrische Regime nutzt COVID-19, um die EU-Sanktionen anzugreifen. Die EU-Mitgliedstaaten werden als unfähig dargestellt, sich gegenseitig zu helfen, jedoch anderen Bedürftigen Ressourcen stehlen. Im Westbalkan kursieren Verschwörungstheorien, die behaupten, das Virus sei eine Biowaffe der USA oder ein Vorwand für eine ausländische Invasion. Hier soll die COVID-Pandemie das Narrativ bedienen, dass die EU dem Westbalkan "den Rücken kehrt".

Im Übrigen gibt es gibt Hinweise darauf, dass Online-Plattformen mit Desinformationen und Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit COVID gutes Geld verdienen. Behauptungen, dass die Europäische Union angesichts des COVID-19 zerfällt, sind in allen sozialen Medien im Trend. Auch falsche Gesundheitsratschläge zu COVID-19 finden eine hohe Verbreitung.

... Information

Regierungen und deren Entscheidungsträger stehen angesichts von COVID 19 auf schwankendem, unvertrautem Grund. Entscheidungen über Leben und Tod Tausender Menschen müssen - innerhalb von Stunden - auf der Grundlage unvollständiger Daten und zeitversetzter Informationen getroffen werden. Nicht nur die Nachrichtenflut aus Deutschland ist zu bändigen. Hinzu kommen Lageberichte aus Wuhan auf chinesisch, Krankenhausberichte aus Bergamo auf italienisch, Situationsschilderungen aus Qom auf Farsi und die Entwicklungen in Syrien, Ägypten oder in verschiedenen Flüchtlingslagern auf arabisch.

Für lagegerechtes Handeln ist es von entscheidender Bedeutung, ein sehr breit-gefächertes, umfassendes, echtzeitnahes Verständnis darüber zu gewinnen, wie sich die Lage entwickelt. Hierfür gibt es heute hochentwickelte technische Analysewerkzeuge, die auf große Mengen von privaten, wirtschaftlichen und auch staatlichen Daten aus offenen oder öffentlich zugänglichen Quellen zugreifen können. Eine der Hauptquellen sind seit vielen Jahren Text- und Bildinformationen aus Fernsehen, Radio und Printmedien. Doch längst ist das Internet die eigentliche Kraftquelle der Datensammlung. Hierzu gehören Blogs, Online-Zeitungen, soziale Netzwerke, Video-Streaming-Dienste, Foren und andere von Benutzern beigesteuerte Inhalte sowie versteckte Juwelen im Backend von Websites.

Das Problem ist, aus der unübersehbaren Menge und Komplexität der verfügbaren Daten die relevanten herauszufiltern. Datenströme aus dem Internet haben Schichten über Schichten von Nuancen. Analysten filtern die Datenströme, prüfen Fakten, analysieren Stimmungen und behalten dabei den Kontext der Daten im Auge. Künstliche Intelligenz ist hierbei eine enorme Hilfe, nicht nur für die Analyse, sondern auch, weil KI-Software und Algorithmen zur Verarbeitung natürlicher Sprachen das Babylon von Datenströmen sozialer Netzwerke und anderer Quellen systematisch durchsuchen können, um relevante Elemente auszuwählen.

Es wird deshalb nicht überraschen, dass auch Nachrichtendienste bei der Bekämpfung von COVID-19 mitmischen. Öffentlich wurde gerade die Involvierung des israelischen Auslandsgeheimdienstes, nachdem sich der Geheimdienstchef bei einer Besprechung mit dem israelischen Gesundheitsminister infizierte. Dies brachte findige Journalisten auf die Spur, dass der Mossad offensichtlich bei der Beschaffung von medizinischer Ausrüstung, Schutzbekleidung und Medikamenten involviert war, indem er diesbezügliche Lieferungen von deren ursprünglichen Bestimmungsorten in Richtung Israel umlenkte.

Von derartigen Aktionen abgesehen können Nachrichtendienste die Regierenden in vier Feldern unterstützen:

· Sie helfen Desinformationen zu bekämpfen.

· Sie liefern den politischen Entscheidungsträgern Einschätzungen über die Verbreitung und die Auswirkungen des Virus. So warnte der US-Geheimdienst die Trump-Regierung bereits im Januar 2020 vor der Ausbreitungsgefahr des Virus´.

· Durch die Aufdeckung geheimer Informationen können Geheimdienste politischen Entscheidungsträgern einzigartige Informationen darüber liefern, inwieweit die offiziellen, von anderen Regierungen angegebenen Infektionsraten korrekt sind. Diese Geheimnisse sind besonders wichtig, um die tatsächliche Lage in autokratischen Regimen wie China, Russland, Iran und Nordkorea zutreffend einzuschätzen.

· Auch durch Überwachung können sie bei der Bekämpfung von COVID-19 und anderen Pandemien unterstützen. Autokratische Regime wie China setzen diese Technologien ohne Mitsprache der Bevölkerung einfach ein. China hat zur Abwehr des Virus eine umfassende Massenüberwachung seiner Bürger im Einsatz. Es nutzt digitale IDs zur Überwachung der Bewegungen von Personen und bietet darüber hinaus Belohnungen für die Information über kranke Nachbarn an. Vor diesem Hintergrund erfreuen sich Gesundheit-Apps des besonderen Interesses von Nachrichtendiensten jeglicher Provenienz.

... App versus Virus

Das Robert Koch-Institut hat eine Corona-App zum Download bereitgestellt, die bei der Bekämpfung des Corona Virus helfen soll. Fitnessdaten sollen genauere Einblicke in die Ausbreitung des Virus bringen, um so Infektionsschwerpunkte und die Wirksamkeit der Maßnahmen besser zu erkennen. Eine Mehrheit der Deutschen findet einer jüngsten Umfrage zufolge eine solche App gut. Sorgen bereitet vielen Bürgern allerdings dennoch eine potenzielle Überwachung auch nach der Corona-Krise.

Diese Sorge teilt und begründet die Gesellschaft für Informatik (GI). Sie hält die App "Corona-Datenspende", die das Robert-Koch-Institut (RKI) Kampf gegen die Pandemie herausgegeben hat, für unausgegoren, wenn nicht gar kontraproduktiv, denn die Anwendung erfülle „... im Hinblick auf Datenschutz und IT-Sicherheit nicht die grundlegenden Anforderungen". Gerade weil digitale Instrumente potenziell hilfreich sind, um Neuinfektionen zu verringern und nachzuverfolgen „... sollten sie jedoch dem Stand der Forschung und den höchsten Anforderungen in Sachen Transparenz, Zweckgebundenheit, Wahrung der Privatsphäre, Anonymisierung, Prüfbarkeit, Verschlüsselung und Datensparsamkeit entsprechen."

Israel, hat bereits ein landesweites digitales Überwachungsprogramm eingeführt, das die ursprünglich für die Terrorismusbekämpfung entwickelte Spyware-Technologie zur Verfolgung von Telefonen nutzt, um Infektionen zu kartographieren und Personen zu benachrichtigen, die infiziert werden könnten. Die US-Regierung verfügt über vergleichbare technologische Fähigkeiten. So arbeiten Google und Apple gemeinsam an einer Contact-Tracing-Software. Die Kooperation könnte bald auf den meisten Smartphones auf der Welt Apps verfügbar machen, die ihre Nutzer informieren, ob sie sich in der Nähe von möglichen Corona-Infizierten aufgehalten haben. Die außergewöhnliche Zusammenarbeit der zwei Technologiekonzerne schafft einen globalen Standard. Dennoch weckt der Schritt Sorgen vor dem möglichen Missbrauch der Technologie. Ganz generell werden Programme zur Sammlung von Massenkommunikationsdaten – einmal etabliert - gerne von Nachrichten- und Sicherheitsdiensten später im Geheimen weitergenutzt.

Sorgen vor einer zentralen Durchleuchtung aller Kontakte weckt beispielsweise Singapur. Die dort von der Regierung verbreitete App „TraceTogether“ soll nach offiziellen Angaben eigentlich keine Standortdaten sammeln. Doch genau das tut die App nach Analysen französischer Sicherheitsforscher. Deshalb sollten nicht nur die Amerikaner auf Aufsicht und Transparenz bestehen. Bislang haben sie noch nicht begonnen, eine dringend notwendige öffentliche politische Debatte darüber zu führen, inwieweit sie bereit sind, ihre Privatsphäre zum Schutz der öffentlichen Gesundheit durch die Rückverfolgung von Infektionskontakten verletzen zu lassen. Natürlich ist auch in Deutschland eine solche Debatte angebracht.

... Ausblick

Derzeit beschäftigen uns vor allem die medizinischen Herausforderungen der Pandemie; ebenso die Fragen, wann ein Leben, das für uns über Jahrzehnte normal war, wieder möglich ist und wie die wirtschaftlichen Folgen gemeistert werden können. Das ist wichtig. Das darf aber den Blick auf andere wichtige, internationalen Entwicklungen nicht verstellen.

Wie die Welt nach der Pandemie aussieht, hängt vom politischen Willen, von der Führung und von der Fähigkeit internationaler Akteure zur Zusammenarbeit ab. Diese Zusammenarbeit hat bislang Schwindsucht. Auf autoritär verfasste Staaten wirkt das Corona-Virus demgegenüber wie ein toxischer Beschleuniger. Beispiele aus China, Algerien und Russland zeigen, dass unter Verweis auf COVID-19 die Rechte der dortigen Oppositionen noch stärker eingeschränkt werden. Es ist möglich, dass Regierungen im Schatten der Krise und in Erwartung einer Handlungsunfähigkeit der Internationalen Staatengemeinschaft außenpolitische Abenteuer eingehen. Zudem schwingt das globale Pendel bezüglich der Bündelung von Macht und Wirtschaftskraft weiter in Richtung Asien.

Die Corona-Krise wird die Rivalität zwischen den USA und China eher verschärfen als entspannen. Dessen geopolitische Auswirkungen - auf die internationale Ordnung, zwischenstaatliche Rivalitäten, Konflikte und Zusammenarbeit – ergeben noch kein klares Bild. Es ist zu befürchten, dass die internationale Staatengemeinschaft als Ganzes zunächst nur wenig Energie für Krisendiplomatie und Konfliktlösung aufwenden können wird. Die Regierungen müssen vordringlich zu Hause mit der Pandemie und deren wirtschaftlichen Nachwirkungen fertig werden. Ohnehin arme und schwache Staaten werden absehbar in eine Wirtschaftskrise abgleiten. Weder China, die USA noch Russland werden die Führung bei integrativen multilateralen Bemühungen übernehmen. Hier müsste die Europäischen Union im Verbund mit gleichgesinnten Multilateralisten in der Welt die Initiative ergreifen. Dies ist eine große Herausforderung.


(1) Deutscher Bundestag. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Drucksache17/12051. 03.01. 2013. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf

(2) EEAS. EEAS SPECIAL REPORT UPDATE: Short Assessment of Narratives and Disinformation Around the COVID-19 Pandemic. April 1, 2020. https://euvsdisinfo.eu/eeas-special-report-update-short-assessment-of-narratives-and-disinformation-around-the-covid-19-pandemic/

16. April 2020

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