Prof. Martin Schlumpf

Widersprüche in der Klimapolitik

Die Energiefrage #69

In verschiedenen Ländern Europas sind die jeweiligen ‘grünen’ Parteien mit ihrer Ankündigung einer verschärften Klimapolitik auf dem Vormarsch. Offensichtlich beschäftigt dieses Thema viele Menschen, und die Hauptforderung ist klar: möglichst bald sämtliche CO2-Emissionen auf Null bringen – also aus allen fossilen Energien aussteigen. Doch kann dies überhaupt gelingen im Angesicht der wirtschaftlichen Aufholjagd Asiens und Afrikas? Es bleiben Zweifel.

Diese Woche hat die Internationale Energieagentur IEA in Paris ihren neuesten Bericht vorgestellt, den World Energy Outlook 2019. In diesem Energieausblick bis ins Jahr 2040 werden keine Prognosen gemacht, sondern es wird in drei Szenarien aufgezeigt, welche politischen Entscheidungen zu welchen Resultaten führen: ein Realitätsspiegel für verschiedene Absichtserklärungen also. Die wichtigste dieser Erklärungen auf dem internationalen Parkett ist das Pariser Klimaabkommen von 2015. Dort haben die meisten Länder ihre Klimaziele für die nächsten Jahre deklariert.

Interessant ist nun das IEA-Szenario «Angekündigte Politik», das davon ausgeht, dass sämtliche im Pariser Abkommen festgehaltenen Strategien zu hundert Prozent umgesetzt werden. Unter diesen Voraussetzungen wird berechnet, dass der weltweite Energieverbrauch bis 2040 um über ein Viertel anwächst. Eine um mehr als 1.5 Milliarden wachsende Bevölkerung, sowie weiteres Wirtschaftswachstum, das wünschenswerte Armutsreduktion und Umweltschutz ermöglicht, treiben diese Entwicklung an. Und obwohl ein stark forcierter Ausbau von Wind- und Solarenergie eine gewisse Dekarbonisierung mit sich bringt, steigen die CO2-Emissionen trotzdem noch langsam weiter an. Dies, obwohl Europa seine Emissionen um bis zu 40 Prozent senken möchte: Das reicht aber nicht aus, um die Zunahme vor allem in den Ländern Ostasiens und zunehmend auch Afrikas zu kompensieren.

Es ist ernüchternd. Selbst wenn sämtliche Versprechen aller Länder im Pariser Klimaabkommen vollständig umgesetzt werden, setzt mittelfristig noch keine CO2-Reduktion ein. Eine solche wäre aber nach den Berichten des Weltklimarates ab sofort dringend notwendig. Im August dieses Jahres zeigte der bekannte Klimaforscher Professor Thomas Stocker (Bern) an einer Klimakonferenz in Zürich, was dies konkret bedeutet. Um das vorgegebene Ziel einer Erwärmung von maximal 1,5 Grad Celsius zu erreichen, müssten die CO2-Emissionen bis 2032 auf Null gesenkt werden, was einer jährlichen Abnahme von 7,5 Prozent entspricht. Zum Vergleich: Die globale Wirtschaftskrise von 2008 hat zu einem Rückgang von zwei Prozent geführt, das war aber eine einmalige Ausnahme. Im Durchschnitt sind die Emissionen in den letzten Jahrzehnten um ein bis zwei Prozent pro Jahr gestiegen.

Dieser Zusammenhang ist aufschlussreich: Wir haben bisher im weltweiten Maßstab noch keine Mittel, um den Energieverbrauch – den Blutkreislauf unseres Wohlstandes – stabilisieren oder sogar senken zu können, es sei denn durch Wirtschaftskrisen (die beiden Ölkrisen der 70er-Jahre sind weitere Beispiele). Unsere heutigen Energiesysteme sind derart komplex, global vernetzt, von gewaltigen Dimensionen und auf lange Zeit gebaut, dass grosse Umwälzungen mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Vor allem aber werden die wirklich gewichtigen politischen Entscheidungen in diesem Zusammenhang nicht in Europa fallen, sondern in erster Linie in China.

Ein Blick auf den Energieverbrauch der Welt macht dies deutlich. In den letzten fünfzig Jahren ist dieser weltweit stetig gestiegen, zwischen 2000 und 2010 allerdings doppelt so stark als in den drei Dekaden zuvor, und dies praktisch ausschliesslich wegen China, das seinen Verbrauch um ganze 250 Prozent steigerte: Das ist mehr als die Hälfte des gesamten weltweiten Mehrverbrauchs, oder das 27-fache dessen, was in ganz Europa in dieser Zeit zusätzlich konsumiert wurde.

Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das Klima wurden noch zusätzlich verschärft, weil der chinesische Mehrverbrauch zu 70 Prozent aus Kohle bestand, dem billigsten Energieträger, der im Land reichlich zur Verfügung steht. Da Kohleverbrennung die Atmosphäre aber am stärksten belastet, wuchs der weltweite CO2-Ausstoss in diesem Jahrzehnt überproportional an. China überholte 2007 die USA als größten CO2-Emittenten, und ist seither mit einem Anteil von knapp dreißig Prozent unangefochten an der Weltspitze.

Weil aber auch die Luftverschmutzung im Land selber stark zunahm, musste China reagieren – und es tat dies rasch und effizient: Seit 2013 sinkt der Kohleanteil im Gesamtenergiemix, neue Kernkraftwerke und Staudämme werden gebaut, und auch bei der Wind- und Solarstromerzeugung steht das Land nach wenigen Jahren weltweit an der Spitze. So gelang es, die vorher rasch steigenden CO2-Emissionen vorerst zu stabilisieren – seit zwei Jahren steigen sie allerdings wieder.

Der «Energiehunger» Chinas bleibt aber weiterhin groß: Trotz leicht abgeschwächten Wachstums wird der Weltverbrauch auch in der bald zu Ende gehenden Dekade dieses Jahrhunderts weiter von China dominiert sein. Weil der chinesische Energiemix trotz aller Bemühungen immer noch zu 85 Prozent aus fossiler Energie besteht, ist auf längere Sicht noch keine substantielle Dekarbonisierung in Sicht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich mit Indien das andere ostasiatische Milliarden-Land langsam auf einen ähnlichen Weg begibt wie China. Dies mit großem Aufholbedarf, Indien verbraucht heute bei gleicher Bevölkerungsgrösse erst ein Viertel der Energie von China, jedoch mit 92 Prozent fossilem Anteil.

Die Diskrepanz und Widersprüche zwischen den Forderungen der europäischen ‘Grünen’ und den energiepolitischen Realitäten könnte nicht größer sein. Wirksame Realpolitik in diesem Zusammenhang bedeutet aber, die dominierende Rolle Asiens, das sich entwickelnde Afrika auf der Rechnung zu behalten, und die Erschließung neuer Energiequellen zu fördern, die gleichermaßen emissionsarm und preisgünstig sind. Nur solche Energiequellen haben das Potential, als Ersatz für Kohle und Erdöl von den aufstrebenden Staaten akzeptiert zu werden.

4. November 2019

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