Dr. Björn Peters

Kerntechnik als Brücke zur jungen Generation

Die Energiefrage - #66

Das große Thema der jungen Generation scheint die Klimadebatte zu sein. Die Lösungen, die dafür im Raum stehen, greifen aber zu kurz. Es funktioniert kein einziges Rezept, das mit der Energiewende verbunden ist, auch mit der CO2- bzw. Energie-Besteuerung sind keine positiven Erfahrungen verbunden – und im politischen Berlin weiß das auch jeder. Nur: Was ist dann die Lösung? Und wie kommen wir zwischen den Generationen wieder ins Gespräch?

Drei Ansätze werden von den Fridays-for-Future-Demonstranten diskutiert, um der Energiewende noch zum Durchbruch zu verhelfen. Der erste Vorschlag ist radikaler Verzicht, bewirkt durch eine hohe CO2-Besteuerung im Bereich von hunderten von Euro je Tonne. Wenn alle den Gürtel enger schnallen, dann würden wir weniger Energie verbrauchen. Würden wir? Davon abgesehen, dass auch die Protagonisten der jungen Generation gerne auf den Malediven urlauben oder nach Kalifornien zum Eis essen fliegen, ist Verzicht nicht glaubwürdig. Jeder kann für sich entscheiden, Verzicht zu üben, als politische Handlungsmaxime taugt er aber nicht. Kleinunternehmer in Sambia und Vietnam wollen unseren Lebensstandard erreichen, und wenn sie die Mittel dazu haben, werden sie es auch schaffen. Weil der Westen weltweit mittlerweile in der Minderheit ist, würde Verzicht bei uns den Ressourcenverbrauch nur verlagern. Stattdessen sollten wir bessere Technologien entwickeln, um der gesamten Menschheit ein Leben in Fülle zu ermöglichen. Überhaupt: Mit welchem Recht fordern wir von unseren Enkeln, weniger Energie zu verbrauchen, als wir selbst in Anspruch nehmen?

Zweitens scheint überall auf der Erde mal die Sonne, irgendwo immer, und ein weltumspannendes Netz aus Solar- und Windkraftwerken sowie Stromleitungen möge die Stromversorgung übernehmen. Theoretisch geht das. An Stromleitungen in hundertfacher Größe der heutigen Höchstpannungsleitungen würde ein solches Konzept nicht scheitern, technisch sind diese zumindest denkbar. Der enorme Ressourcenverbrauch beim Bau von Solar- und Windkraftwerken, die Industrialisierung von Landschaften, die damit einhergehende Umweltzerstörung werden dabei aber außer Acht gelassen. Viel schwerer wiegt, dass die Stromleitungen – Bauwerke von zigtausend Kilometern Länge – nicht zu schützen wären. Jeder mittelmäßig begabte Dorfterrorist könnte mit etwas selbstgebasteltem Sprengstoff eine Leitung zerstören und damit die Stromversorgung ganzer Länder ausknipsen. Keine gute Idee.

Drittens wird diskutiert, Solar- und Windkraftwerke dort aufzubauen, wo die natürlichen Bedingungen günstig sind. Bei uns in Deutschland kann nicht genug Energie aus Sonne und Wind geerntet werden, wie neuere Studien nahelegen. Solarkraftwerke in die Wüsten, Windparks nach Patagonien also. Dort müsste die entstehende elektrische Energie dazu genutzt werden, flüssige Energieträger als Benzin-Ersatz zu produzieren, die preiswert über die Weltmeere zu den Verbrauchern verschifft würden. Allerdings müssten wir uns dann vom Anspruch der dezentralen Energieversorgung endgültig verabschieden. Folgerichtig wäre es, da Sonne und Wind noch nie dazu geeignet waren, eine stabile, sichere und preisgünstige Energieversorgung sicherzustellen. Auch dieses dritte Szenario krankt an hohem Ressourcen- und Energieverbrauch, und es ist von hohen CO2-Emissionen während des Aufbaus geprägt. Außerdem verlief der technische Fortschritt im Bereich der Umwandlung von Strom in chemische Energieträger hin zu einer Großtechnik bislang enttäuschend langsam, und wir müssten noch Jahrzehnte lang grundlegend daran forschen.

Wenn nun die Umgebungsenergien, gerade Sonne und Wind, keine ernsthafte Perspektive bieten, um den wachsenden Energieverbrauch der Menschheit zu befriedigen, und chemische Energieträger überwunden werden müssen, dann verbleiben nur noch nukleare Energieträger. Andere lässt die Physik nicht zu.

In den letzten Wochen häufen sich die, die ein Ende des Atomausstiegs fordern. Die Internationale Energieagentur, der VW-Chef Herbert Diess, das IPCC, Hans-Werner Sinn und viele andere forderten ebenso eine Neubewertung der Kernenergie wie Jasper von Altenbockum in seinem in den sozialen Medien viral gegangenen Leitartikel vom 10. April 2019, in dem er ein Ende der Denkverbote um die Kernenergie forderte. Fast immer wurde dabei aber aus der Defensive heraus argumentiert. Es scheint gerade so, als wäre unser Wissen um die Kerntechnik und die angrenzenden Themengebiete in den 1980er-Jahren stehengeblieben. Uns vor 1980 Geborenen stören vier Argumente an der Kernenergie, die bei den jüngeren Leuten mit den richtigen Fakten schnell geradegerückt werden können: Unfälle, Atommüll, hohe Kosten und Radioaktivität allgemein. In allen vier Bereichen motivieren moderne Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik, viel selbstbewusster nach Kerntechnik zu rufen.

Kernenergie ist eine Niedrigrisiko-Technologie

Keine Technologie wurde so gut in ihrer Wirkung auf Mensch und Natur untersucht wie die Kernenergie. Eigens dafür gründeten die Vereinten Nationen bereits im Jahr 1955 den Weltstrahlenschutzrat (UNSCEAR) als Unterorganisation, um den wissenschaftlichen Stand der Strahlungswissenschaften in einer Art und Weise zusammenzufassen, wie dies der IPCC im Bereich Klimawissenschaften tut. Liest man die Studien des Weltstrahlenschutzrats zu den großen Reaktorunfällen in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, kommt Überraschendes zutage. In Harrisburg und Fukushima gab es bis heute keine Toten durch Strahlung, in Tschernobyl waren es keine 50. Wohl wurden laut dem UNSCEAR knapp 7.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs nach Tschernobyl gezählt, dieser ist aber erstens besonders gut heilbar und zweitens ist noch nicht klar, welchen Einfluss das genauere Hinsehen nach dem Reaktorunfall auf die Krebsstatistik hatte. Einige Dutzend vorzeitige Todesfälle werden zwar erwartet, andere Krankheits- und Todesfälle waren bei genauerem Hinsehen aber unauffällig, so dass langfristig weniger als 200 Menschen Opfer der Havarie von Tschernobyl sein werden (WHO, „Health Effects of the Chernobyl Accident…“, Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group „Health“, Geneva 2006).

Auch wenn es zynisch klingen mag, Tote gegen Tote aufzurechnen: Bei keiner anderen Stromerzeugungstechnik sterben so wenige Menschen je produzierter Einheit von Energie wie bei der Kernenergie. Diese Liste wird angeführt durch Wasserkraft – wer erinnert sich noch an die großen Dammbrüche? – und Kohle. In den Kohleminen alleine sterben jährlich weltweit viele tausend Menschen, hinzu kommen laut der Weltgesundheitsorganisation WHO etliche Millionen Menschen, die Atemwegserkrankungen zum Opfer fallen, zumeist durch verpestete Luft in Schwellenländern aus ungefilterten Kohlekraftwerken und Autos. Selbst Biomasse-, Wind- und Solaranlagen sind alleine wegen der gigantischen Materialmengen, mit denen dort hantiert wird, deutlich tödlicher als Kernkraft (A Markandya, P Wilkinson, Electricity generation and health, The Lancet, Vol. 370, 15. Sept. 2007, S. 979-990).

Die Voraussage von „unbewohnbaren Landschaften“ nach kerntechnischen Unfällen hat sich nicht erfüllt. Manche Spötter sagen gar, dass die einzige Energietechnik, die bis heute ganze Landstriche unbewohnbar gemacht hat, die Windenergie sei. Die Region um Fukushima hätte jedenfalls nicht evakuiert werden brauchen, und um Tschernobyl geht es der Natur heute besser denn seit langem.

Was häufig übersehen wird: Die kerntechnische Industrie hat aus allen Reaktorunfällen gelernt. Sie baut jede verfügbare Sicherheitstechnik ein, hat eine vorbildliche Fehlerkultur etabliert, hat anerkannt, dass es sich bei Kerntechnik um „envirotechnische“, also um von Umgebungs- und Umweltbedingungen abhängige Systeme mit Mensch-Maschinen-Schnittstelle handelt, daraus die Konsequenzen gezogen und sich international zwecks Erfahrungsaustauschs vernetzt. Gerade die deutschen Kernkraftwerke haben es ihren Betreibern dadurch gedankt, dass sie enorm zuverlässig liefen und mit die höchsten Erträge von allen Kernkraftwerken weltweit erzielten. Weil unsere Kernkraftwerke immer weiterentwickelt wurden, könnten sie sogar eine Kernschmelze technisch beherrschen, insofern als so gut wie keine Radioaktivität nach außen treten würde.

Und in vielen Ländern gibt es Entwicklungs- und Bauprojekte für Kernkraftwerke der vierten Generation. Diese nutzen physikalische Prozesse, um Kernschmelzen zuverlässig auszuschließen. Die bessere Reaktorphysik ersetzt die teure Sicherheitstechnik konventioneller Kernkraftwerke.

Insofern müssen Versicherungskonzerne, Regierungen und die Öffentlichkeit anerkennen, dass Kerntechnik heutzutage eine Niedrigrisiko-Technologie ist.

Die Atommüllfrage? Gelöst!

Ähnlich wie mit Atomunfällen steht es um die Atommüll-Frage. Diese ist ethisch bedeutsam, weil die Kerntechnik eine Nachbearbeitung und für viele hunderttausende Jahre eine sichere Lagerung notwendig macht. Obwohl dies auf die meisten hochtoxischen chemischen Abfälle noch viel stärker zutrifft, wurde in Deutschland eine Endlagerkommission gebildet, die ganz Deutschland auf der Suche nach einem geeigneten Endlager, das den Atommüll für sehr lange Zeiträume von der Biosphäre fernhält, geologisch kartiert. Im Endergebnis soll bis zum Jahr 2117 (sic!) ein geologisches Endlager errichtet sein. Dass wir uns dabei viel umständlicher anstellen als beispielsweise die Finnen, deren Endlager bereits in den nächsten Jahren betriebsbereit sein soll: geschenkt.

Denn es ginge auch ganz anders: In einer kürzlich erschienenen Studie des Berliner Instituts für Festkörper-Kernphysik wird eine Trennungstechnik vorgestellt, die die abgebrannten Brennstäbe in ihre einzelnen Elemente erheblich effizienter und rückstandsfreier zerlegt, als dies mit herkömmlichen nuklearen Trennverfahren möglich ist. 95 Prozent davon ist Uran, das wegen seiner langen Halbwertszeit kaum radioaktiv, also ungefährlich ist, es könnte gar wiederverwendet werden. Durch „Partitionierung“, wie dieses Verfahren allgemein genannt wird, könnte das Volumen des Atommülls damit bis zum Zeitpunkt der vorgesehenen Endlagerung auf ein Zwanzigstel eingedampft werden, und was übrigbleibt, sind kurzlebige Spaltprodukte und langlebige Transurane. Nur letztere müssten geologisch gelagert werden, aber eben in einem viel kleineren Lager. ("Partitionierung radioaktiver Abfallstoffe durch Rektifikation", Reaktorsicherheitsforschung-Vorhaben-Nr. 1501535)

Möglich ist dies durch Chlorierung und anschließende Verdampfung. Weil jedes Element eine andere Chlorverbindung mit unterschiedlichem Siedepunkt eingeht, lassen sich die Elemente mit höchster Reinheit voneinander trennen. Dieses Partitionierungsverfahren, die fraktionierte Destillation, ist auch Schnapsbrennern geläufig. Danach wird das Chlor entfernt und wieder genutzt. Die Methode ist aus der Titanherstellung abgeleitet und müsste nur für die Behandlung von stark strahlenden Medien weiterentwickelt werden. Rechtlich gesehen ist die Partitionierung keine Wiederaufbereitung, daher unterliegt sie nicht dem Verbot des Atomgesetzes und könnte auch in Deutschland umgesetzt werden.

Noch besser wäre natürlich, Atommüll würde gar nicht erst entstehen. Auch dies könnte mit Neuentwicklungen in der Kerntechnik bewerkstelligt werden. Besonders eignen sich dafür Flüssigbrennstoffreaktoren, da hier der Brennstoff ständig zirkuliert und somit im laufenden Betrieb „gereinigt“ werden kann. Das Prinzip ist nicht neu, doch erst heute wagen sich die ersten Firmen, vor allem in den USA, daran, solche Systeme kommerziell zu entwickeln. In Anbetracht der Situation in Deutschland ist es fast unglaubwürdig, dass auch hier das Institut für Festkörper-Kernphysik mit einem besonders effizienten Konzept wieder ganz vorne liegt. Dort wird der Dual-Fluid-Reaktor entwickelt, der nicht nur keinen Atommüll erzeugt, sondern die abgebrannten Brennstäbe anderer Kernkraftwerke als Brennstoff restlos verwerten könnte. Weil in den abgebrannten Brennstäben noch sehr viel Energie steckt, könnte sich Deutschland aus deren Energie für ein paar Jahrhunderte restlos versorgen. Dies schließt nicht nur den Elektrizitätssektor ein, sondern auch die weitaus größeren Sektoren Wärme, Mobilität und industrielle Prozessenergie. Selbst Kraftstoffe und nützliche Chemikalien könnte der Dual-Fluid-Reaktor synthetisieren, da er bei sehr hohen Temperaturen (>1.000°C) arbeitet. Der Reaktor hätte also das Potential, nicht nur die Stromwende herbeiführen, sondern die fossilen Rohstoffe insgesamt zu ersetzen.

Weitere Vorteile des Reaktors sind, dass er sich auf Basis physikalischer Prozesse selbst reguliert, damit inhärent sicher ist, und standardisiert zu niedrigen Kosten gebaut werden könnte. Und weil er als „schneller“ Reaktor nicht nur Uran, sondern auch Thorium verwerten kann, reichen die Brennstoffvorräte noch für zig Millionen Jahre. Er ist also auch im besten Sinne nachhaltig.

An der Atommüllfrage würde die weitere Nutzung der Kernenergie also nicht scheitern, solange wir bereit sind, neue kerntechnische Verfahren zu entwickeln und einzusetzen, die mehrere Probleme auf einmal lösen.

Kernkraftwerke müssen nicht teuer sein

Die Neubauprojekte in Finnland, den USA, Frankreich und England haben die Kernenergie in Verruf gebracht. Es dauert wesentlich länger als geplant, sie zu errichten, und die Kosten für ihre Errichtung wachsen ständig an, weit über die ursprünglich veranschlagten Budgets hinaus. Andererseits gibt es südkoreanische, chinesische und russische Neubauprojekte, bei denen Kosten und Bauzeit nur wenig oder überhaupt nicht aus dem Ruder liefen. Auch die deutschen Kernkraftwerke wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren preisgünstig errichtet und liefern den kostengünstigsten Strom ins Netz. Was ist der Unterschied?

Die deutschen Hersteller diskutierten bei jedem Kraftwerksbau in firmenübergreifenden Teams das Gelernte, damit das jeweils nächste Kraftwerk günstiger und schneller gebaut werden konnte, bei immer höherer Zuverlässigkeit. Die Lernkurve wurde also aktiv beschritten, es arbeiteten Wissenschaftler und Kerntechniker Hand in Hand, um der Kernenergie zum Durchbruch zu verhelfen. Bis zur Mitte der 1980er Jahre baute die Bundesrepublik auf diese Weise einen weltweit nahezu einmaligen Pool an Spitzenkräften auf, die sich immer wieder gemeinsam ähnlichen Herausforderungen stellten. Nachdem das letzte Kernkraftwerk Neckarwestheim 2 in (West-) Deutschland im Jahr 1989 in Betrieb ging, wurden keine weiteren in Auftrag gegeben. In der Folge zerstreuten sich die Entwicklerteams. Bei heutigen Neubauten fangen die Teams daher fast bei Null an, und Fehler führen zu den Kosten- und Zeitüberschreitungen.

Die Erfahrung der alten Hasen fehlt heute, und so geht es auch in den westlichen Ländern, wo Kernkraftwerke noch gebaut werden. Nur in wenigen Ländern Asiens wurden immer wieder Kernkraftwerke in Auftrag gegeben, so dass die Entwicklerteams nicht aus der Übung kamen.

Zusätzlich verteuerten sich die neueren Kernkraftwerke auch im Design, da jedwede verfügbare Sicherheitstechnik auch eingebaut wird. Kernenergie ist daher die einzige Technologie, bei der die Lernkurve nicht zu einer Verbilligung, sondern zu einer Verteuerung mit der Zeit führt.

Anders wäre dies beim in Jülich entwickelten Kugelhaufenreaktor und bei Flüssigkernreaktoren. Dort wird ja die Havarie mittels physikalischer Prozesse verhindert. Das ist viel preisgünstiger, weil nur wenige aktive Sicherheitssysteme benötigt werden. Sollten sie gebaut werden, versprechen sie deutliche Kostensenkungen. Am Ende werden sich die Kernkraftwerksbauer mit der besten Qualität bei niedrigsten Kosten am Markt durchsetzen.

Übrigens spräche nichts dagegen, die kostengünstig arbeitenden deutschen Kernkraftwerke noch für einige Jahrzehnte weiter zu nutzen, wenigstens so lange, bis die Kernkraftwerke der nächsten Generation einsatzbereit sind. Wir müssten uns nur schnell entscheiden, da Personalpläne, Ersatzteil-Konzepte und die Brennstoff-Versorgung überarbeitet werden müssten, wenn wir unsere guten Kernkraftwerke weiterbetreiben wollten. Die deutsche CO2-Bilanz würde dadurch besser und die Stromversorgung günstiger.

Radioaktivität viel weniger gefährlich als wir befürchten

Das heikelste Thema zuletzt: Wer heute älter als 40 Jahre alt ist, wuchs auf mit der Strahlenangst durch die Havarie in Tschernobyl. Kinder durften nicht nach draußen zum Spielen, wir wussten nicht, was wir noch essen durften, und wenig war darüber bekannt, wie groß die Gefährdung der Bevölkerung wirklich war. In der Natur gibt es für so gut wie alles bis zu drei verschiedene Mengen von etwas: zu wenig, genau richtig und zu viel. Das gilt für Arzneimittel, Wein, Sauerkraut, Sonnenstrahlung, Vitamine und vielleicht sogar Angst, aber gilt es auch für Radioaktivität?

Gerade nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beobachteten zahlreiche Wissenschaftler, wie sich die Volksgesundheit in der Gegend um den Reaktor herum entwickelte. Weil gleichzeitig mit der Sowjetunion auch das dortige Gesundheitssystem zerbrach, überlagerten sich mehrere Effekte. Der Weltstrahlenschutzrat UNSCEAR geht davon aus, dass es unmittelbar exakt 47 Tote durch den Reaktorunfall gab (World Health Organization, "Health Effects of the Chernobyl Accident and Special Health Care Programmes", Genf, 2006). Eine Häufung von Missbildungen konnte nicht festgestellt werden, wohl aber trieben viele Frauen aus Angst ihre Föten ab. Die Zahl der Krebspatienten stieg kaum an, lediglich die Fälle von Schilddrüsenkrebs häuften sich, dieser ist aber gut heilbar. Die WHO geht in ihrem Bericht von 2006 von allerhöchstens 200 Toten durch strahlungsbedingten Krebs aus. Wenn auch jeder Tote einer zu viel war, im Verhältnis zu den gewaltigen Energiemengen aus der Kernenergie, die weltweit sonst ohne tödliche Zwischenfälle produziert wurden, und im Verhältnis zu anderen Energieträgern ist die Zahl sehr gering.

Die Vorgänge nach Tschernobyl lösten eine Welle medizinischer Untersuchungen aus, wie sich radioaktive Strahlung auf den menschlichen und tierischen Körper auswirkt, nachdem es hierzu bereits umfangreiche Studien um die heute lebenswerten Städte Hiroshima und Nagasaki gab. Die Ergebnisse waren überraschend. In Deutschland und in vielen Regionen der Welt beträgt die jährliche Dosis an radioaktiver Strahlung etwa 1-3 Millisievert pro Jahr (mSv/a). Die Strahlenschutzgesetzgebung geht von einer Ungefährlichkeit nur bis zu etwa 20 mSv/a aus, was in der Öffentlichkeit häufig damit verwechselt wird, dass darüber erhebliche Gefahren für Leib und Leben bestünden.

Tatsächlich gibt es manche Regionen in der Welt, in der die natürliche Radioaktivität ein Vielfaches davon beträgt. Im indischen Bundesstaat Kerala, im Südwesten des Subkontinents gelegen, werden die etwa 33 Millionen Bewohner mit 60-70 mSv/a „belastet“. Tatsächlich leben die Keralaner am längsten von allen Indern. Deren „Belastung“ scheint also keine negativen gesundheitlichen Auswirkungen zu haben.

Ein berühmtes Experiment war, mit Hilfe von radioaktiver Strahlung die Unterdrückung des Immunsystems bei Mäusen messen. Wieder überraschte das Ergebnis. Bis zu einer Dosis, die umgerechnet auf Menschen einer „Belastung“ von 100 mSv/a entsprach, verbesserte sich das Immunsystem. Erst bei einem Vielfachen dieser radioaktiven Dosis wurde es zunehmend schwächer, und ab einer Dosis von 1.000 mSv/a ließen sich unmittelbare Strahlenschäden feststellen. In einer groß angelegten Metastudie fanden Wissenschaftler um Katrin Manda von der Universität Rostock, dass niedrig dosierte Strahlung in etlichen Studien eine Stimulierung des Immunsystems bewirkte, wobei die Ergebnisse nicht einheitlich waren.

Bill Sacks wagte sich mit Kollegen vor und stellte in einer eigenen Metastudie („Epidemiology without biology“, Biological Theory (2016) 11, S. 69 – 101) Wirkmechanismen vor, warum radioaktive Strahlung zu einer Stimulierung des Immunsystems führt. Biologische Organismen hätten mehrere zelluläre Mechanismen, den zellulären Selbstmord, den Brudermord durch benachbarte Zellen und zuletzt das Immunsystem zur Verfügung, wenn Zellen durch Lesefehler am Erbgut entarteten, um Schäden am Organismus insgesamt zu vermeiden.

Die Studien, die eine neutrale bis positive Wirkung von radioaktiver Strahlung auf den Körper nachweisen, füllen mittlerweile ganze Regalmeter. Angesichts der erdrückenden Beweislage ist es für uns an der Zeit, die Angst vor radioaktiver Strahlung an ihren rechten Platz zu rücken. Erst bei so hohen Dosen, dass unmittelbare Strahlenschäden auftreten, bei vielen hundert Millisievert in kurzer Zeit, müssten wir besorgt sein.

Im Lichte dieser Erkenntnisse mutet die großflächige Evakuierung um Fukushima nach dem Reaktorunfall als geradezu hysterisch, mindestens aber als unnötig an. Über 2.000 Menschen starben an den Folgen der Evakuierung. Wären die Menschen für drei Tage in ihren Häusern geblieben, bis die stärkste Strahlung abgeklungen war, wäre niemand zu Schaden gekommen. Stattdessen wurden die Intensivpatienten aus betroffenen Krankenhäusern geräumt, von lebenserhaltenden Apparaturen getrennt, etwa 50 von ihnen starben sofort. Viele Menschen begingen Selbstmord, weil sie für lange Zeit aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurden.

Die Angst vor radioaktiver Strahlung ist also tödlicher als diese selbst. Auch bei uns sollte die Strahlenschutzgesetzgebung im Lichte dieser Erkenntnisse aus den vergangen drei Jahrzehnten gründlich überdacht werden. Sollte niedrig dosierte Strahlung bis ca. 100 mSv/a der Gesundheit dienlich sein, wirkt der Strahlen-„Schutz“ sogar der allgemeinen Gesundheit entgegen!

Es führt kein Weg an der Kerntechnik vorbei

Dass die üblichen Argumente gegen Kernenergie im Lichte neuerer Erkenntnisse nicht verfangen, haben wir nun gezeigt. Es gibt daher keinerlei Grund für einen verschämten Umgang mit der Kerntechnik. Führt man sich vor Augen, dass die chemischen Energieträger Kohle, Öl und Gas weltweit immer noch vier Fünftel der Energie der Menschheit bereitstellen, und angesichts der Tücken der Umgebungsenergien, wird deutlich, dass diese nur durch nukleare Energien ersetzt werden können. Stromerzeugung – die Spielwiese der Energiewende – trägt übrigens nur ein Fünftel zum Energieverbrauch bei. Die größeren Anteile sind Wärme, Mobilität und industrielle Prozessenergie.

Wie hoffnungslos die Energiewende ist, zeigt sich vor allem daran, dass selbst in Deutschland nach hunderten Milliarden Euro an Ausgaben immer noch nur etwa fünf Prozent der Primärenergie aus Sonne und Wind stammen. Auch nach zwei Jahrzehnten der ‚Energiewende‘ haben wir keine Erfolge in der CO2-Minderung vorzuweisen, sind gar das Schlusslicht in Europa. Zugleich sind nirgendwo in Europa die Strompreise höher als bei uns. Unser Beispiel wirkt weltweit abschreckend.

Ein grundlegendes Umdenken, ein Neustart in der Energiepolitik ist also das Gebot der Stunde. Wo nun die Bundesregierung ein Klimagesetz vorlegen wird, ist die Gelegenheit günstig anzuerkennen, dass eine CO2-arme Zukunft am besten, leichtesten, schnellsten und billigsten mit einem Weiterlaufen existierender Kernkraftwerke, dem Neubau weiterer davon, und der Weiterentwicklung der Kerntechnik zu erreichen ist. Die existierenden Kraftwerke werden zur Not auch gegen den Willen der Betreiber per Anordnung der Bundesnetzagentur weiter betrieben werden müssen, da sie für die Versorgungssicherheit in Zeiten des Kohleausstiegs unverzichtbar sind.

Modernere Kerntechnik wird in Zukunft nicht nur Strom produzieren, sondern auch Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe – der Verbrennungsmotor hat noch lange nicht ausgedient! – und Basischemikalien wie Ethylen herstellen können. Auch Metalle, Glas und Baustoffe lassen sich mit moderner Kerntechnik herstellen. Insofern ist moderne Kerntechnik das missing link der Energiewende. Ihre weltweite Zukunft hat kaum erst begonnen, und dies in einer Zeit, in der viele deutsche Beobachter sie bereits abgeschrieben haben.

Es wird Zeit, die Ärmel aufzukrempeln, unsere Kinder freitags von der Straße zu holen, und sie für ein Konzept zu begeistern, das die ökologischen Ziele der Energiewende nicht nur verspricht, sondern auch technisch imstande ist, sie zu erreichen. Vielleicht schaffen wir es sogar, unsere Kinder dazu zu motivieren, sich als Ingenieure und Naturwissenschaftler an der Weiterentwicklung der Kerntechnik zu beteiligen. Das setzt allerdings voraus, dass die Lehrpläne entsprechend ergänzt werden und die Lehrer über Fortbildungen auf den aktuellen Stand des Wissens gebracht werden. Flankierend sollten die Unternehmen der Kerntechnik, die Naturschutzverbände und die Bundezentrale für Politische Bildung wirksame Öffentlichkeitsarbeit betreiben, damit die alten Irrtümer über die Kerntechnik durch die modernen Erkenntnisse der Wissenschaft ersetzt werden.

Angesichts der gewaltigen ökologischen Aufgaben, die vor uns liegen, wäre eine Überarbeitung unserer Energiestrategie dringend notwendig, und vielleicht auch ein Beitrag zur Überwindung der drohenden Spaltung unserer Gesellschaft in Jung und Alt. Lassen wir die Kerntechnik die entscheidende Brücke hierfür sein.

2. Juli 2019

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