Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal & Dr. Frank Hennecke

Ist die Entsendebescheinigung ein Hindernis für die europäische Dienstleistungsfreiheit?

Intro: Das aktuelle Problem

In den Mitgliedstaaten der EU ist die grenzüberschreitende Arbeitsleistung rechtlich zulässig, politisch gewollt und praktischer Alltag. Desgleichen müssen in allen Ländern der EU die Arbeitnehmer sozialversichert sein. Grundsätzlich gilt, daß Sozialversicherungsbeiträge dort gezahlt werden müssen, wo gearbeitet wird. Eine Ausnahme bildet die sogenannte A1-Bescheinigung, die die Sozialversicherung im Entsendeland bestätigt. Ob Sozialversicherung besteht, unterliegt der Kontrolle durch das jeweilige Zielland. Jüngst berichten die Unternehmen von massiven Kontrollen, die Auslandseinsätze zu behindern drohen. Die Zeitschrift „Stern“ vom 7.3.2019 schreibt „Das ist ja Wahnsinn!“.

Wie ist die Sach- und Rechtslage?

Unterschiede der Sozialversicherungssysteme

Die Sozialversicherungssysteme in den einzelnen Ländern der EU sind sehr unterschiedlich; es besteht europarechtlich keine Sozialunion. Daher kann ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer, die er grenzüberschreitend entsendet, ausnahmsweise an seinem Firmensitz versichern, so daß die Sozialversicherung nicht des Ziellandes, sondern des Entsendelandes gilt. Voraussetzung hierfür ist eine sogenannte A 1- Bescheinigung, die die Sozialversicherung des Arbeitnehmers in seinem Heimatland bestätigt. So wird vermieden, daß Sozialversicherungsbeiträge doppelt gezahlt werden, und andererseits ermöglicht, daß ein Unternehmen auf der Grundlage der Sozialversicherung seines Sitzlandes in den europäischen Arbeitsmarkt eintreten kann. Insbesondere Unternehmen aus den östlichen Mitgliedstaaten der EU profitieren von dieser Rechtslage.

Die Verbindlichkeit A 1- Bescheinigung

Die A 1- Bescheinigung ist nach der Richtlinie 987/2009 für alle Zielländer verbindlich und dort nach ständiger Rechtsprechung des EuGH von allen Gerichten und Behörden anzuerkennen (Entscheidungen in den Rechtssachen „Herbosch-Kiere“ vom 26.1.2006, C-2/05; „ A Rosa Flussschiff“ vom 27.4.2017, C-620/15; „Königreich Belgien“ vom 11.7.2018, C-356/15; „Alpenrind“ vom 6.9.2018, C-527/16) Wer die A 1- Bescheinigung vorlegt, ist am Einsatzort von der Sozialversicherungspflicht befreit. Dies gilt selbstverständlich auch für die Kontrollbehörden vor Ort. Gibt es Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung, fällt es nicht in die Kompetenz der örtlichen Behörden, hieraus selbständig Folgerungen zu ziehen; vielmehr müssen sie ein Konsultationsverfahren einleiten, in dem das die Bescheinigung ausstellende Entsendeland Gelegenheit zur Prüfung und zu etwaiger Rücknahme erhält; solange dieses Verfahren läuft, gilt die Bescheinigung und sind Sanktionen des Einsatzlandes gehindert.

Die A 1- Bescheinigung als Systemausgleich

Dieses klare Regelungssystem der EU vermeidet doppelte Sozialversicherungsleistungen, respektiert die jeweiligen Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten und sichert die Verwaltungshoheit des Landes, das die Bescheinigung ausstellt. Das europäische Recht schafft einen ausgewogenen Ausgleich zwischen nationalstaatlicher Souveränität und europäischer Dienstleistungsfreiheit: Beides soll gelten.

Nationalstaatliches Interesse an der Kontrolle

Das Regelungssystem vermeidet zwar eine Konkurrenz der jeweiligen Sozialversicherungen, bringt jedoch deren jeweiliges Interesse, eine Sozialversicherungspflicht zu ihren eigenen Gunsten zu reklamieren, nicht zum Erlöschen. Die A 1-Bescheinigung attestiert ja nur eine Ausnahme von der grundsätzlichen Geltung örtlichen Rechts. Es sind die Kontrollen vor Ort, die einerseits gewiß die Rechtmäßigkeit des Auslandseinsatzes von Arbeitnehmern überprüfen sollen, hinter denen andererseits aber genau das Interesse der Sozialversicherung am Einsatzort steht. Von daher verstehen sich das Motiv und die Härte der Kontrolle.

Ansatzpunkte der örtlichen Kontrollen

Die Kontrollen finden ihr Einfallstor an einer Stelle, die ihren Ort nicht im europäischen Recht selbst hat, sondern im praktischen Vollzug. Für den Auslandseinsatz ist die A 1 –Bescheinigung vorzuhalten; so der Grundsatz. Für welche konkrete Tätigkeit, von welcher Person, an welcher Stelle, zu welchem Zeitpunkt – das steht nicht im europäischen Recht, kann aber von den jeweiligen nationalen Kontrollbehörden sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Entsprechend unterschiedlich ist die Praxis und sind die Sanktionen, wenn es –vermeintlich- an der Bescheinigung an Ort und Stelle fehlt. Es ist diese unterschiedliche Praxis, von der die Zeitschrift „Stern“ nach eigenen Erkundungen berichtet. Und hier gibt es in der Tat Grund zur Befürchtung. Von der EU selbst ist dies aber nicht gewollt.

Vergleich der Praxis

In sehr verdienstvoller Weise hat die KPMG AG Wirtschaftsprüfergesellschaft in Stuttgart bereits im Jahre 2018 eine Umfrage in allen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt und als Ergebnis eine „Länderbezogene Risikoauswertung bei fehlender A1-Bescheinigung“ und eine „Länderbezogene Auswertung des Fragenkatalogs – Country-By-Country Report“ vorgelegt. Diese Analyse zeigt in der Tat erstaunliche Unterschiede. Dabei wird zugleich der große Ermessensspielraum deutlich, den die EU-Mitgliedstaaten bei der Kontrolle der A1-Bescheinigung entweder von Rechts wegen haben oder doch beanspruchen. Für die zeitliche Vorlagepflicht, so die Analyse, läßt sich keine gesetzliche Untergrenze erkennen, desgleichen auch keine Untergrenze für den sachlichen Umfang eines Auslandseinsatzes. Unterschiedlich ist im übrigen auch die Kontrolldichte in den jeweiligen Ländern. Feststellen lassen sich als Sanktionen die Einbeziehung in die jeweils nationale Sozialversicherung, darüberhinaus aber auch Geldbußen und Strafen wie in Frankreich und vor allem in Österreich, wo Bußgelder und Strafen je Arbeitnehmer bis zu 20.000.- Euro auferlegt werden können. Auch die Schweiz ist in die Auswertung einbezogen; es gilt dort eine relativ großzügige Kontrollpraxis. Für Deutschland wird eine verhältnismäßig moderate Kontrollpraxis festgestellt.

Nachreichen, Rückwirkung, Fehlen der A 1-Bescheinigung

Für die Kontrolle sind drei Fallgruppen zu unterscheiden. Fehlt die Bescheinigung, weil der Arbeitnehmer nicht sozialversichert ist, es aber sein müßte, liegt ein Fall von „Schwarzarbeit“ vor. Darum aber geht es hier nicht. Wurde die Bescheinigung, die vorhanden ist, bei der Kontrolle lediglich nicht mitgeführt, kann diese nachgereicht werden; Sanktionen entfallen, es sei denn, das Nicht-Mitführen ist als solches eine Ordnungswidrigkeit. Eine Bescheinigung, die bei der Kontrolle noch fehlte, kann mit Rückwirkung nachgereicht werden. Die Rückwirkung der A1-Bescheinigung hat der EuGH in seiner Entscheidung „Alpenrind“ (vom 6.9.2018, C-527/16) ausdrücklich zugelassen. Bei Nachreichen einer rückwirkenden A 1 –Bescheinigung entfällt auf jeden Fall eine Strafbarkeit: Es kann nicht bestraft werden, was sich im nachhinein als rechtmäßig herausstellt. Durch die Möglichkeit des Nachreichens und der Rückwirkung entspannt sich die Situation für die Unternehmen wenigstens teilweise.

Einsatz elektronischer Informationssysteme zur grenzüberschreitenden Kontrolle

Eine gewisse Erleichterung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist die Möglichkeit der elektronischen Antragstellung für eine A 1-Bescheinigung und deren elektronische Ausstellung selbst, die nach einem Spitzengespräch des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit und der Deutschen Gesetzliche Unfallversicherung vom 28.6.2018 in Aussicht genommen wird und eingeführt werden soll. In diesem Zusammenhang soll nach Absprache mit Frankreich und Österreich die Vorlage des elektronischen Antrages bei der Vor-Ort-Prüfung ausreichen und von Sanktionen abgesehen werden, bis endgültige elektronische Systemlösungen gefunden sind.

Hoheitliche Kontrollpraxis und Auswege

Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die unterschiedliche Kontroll- und Sanktionspraxis der einzelnen EU-Staaten mit Wortlaut und Geist des europäischen Rechtes zur Dienstleistungsfreiheit verträgt. So jedenfalls war das mit der A1 –Bescheinigung nicht gemeint, daß sie sich als Hindernis grenzüberschreitender Arbeitsleistung auswirkt. Man wird indes einräumen müssen, daß sich jedenfalls derzeit die jeweilige nationale Kontrollpraxis, die Ausdruck der insofern verbliebenen Verwaltungshoheit und Souveränität der Mitgliedstaaten ist, nicht hindern läßt. Ein Ausweg wäre möglicherweise eine Änderung des europäischen Rechtes selbst, auf jeden Fall aber auch eine innereuropäische Absprache über die Kontrollpraxis. Allzu rigide Sanktionen könnten zu einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH führen. Im Deutsch-Französischen-Schweizerischen Grenzraum am Oberrhein wäre die Harmonisierung der Kontrollpraxis lohnende Aufgabe der Oberrhein-Konferenz.

Fazit

Das Regime der A 1-Bescheinigung gilt auf normativer Ebene uneingeschränkt. Im Verwaltungsvollzug ergeben sich Probleme durch die unterschiedliche Kontroll-und Sanktionspraxis der Staaten. Hieran läßt sich kurzfristig rechtlich und sachlich nichts ändern. Welcher Rat kann gegeben werden?

Die unterschiedliche Praxis ist ernst zu nehmen. Anderer Auffassung sein hilft nicht. Die Praxis des in Aussicht genommen Staates ist im vorab zu prüfen. Bereits vor dem ausländischen Arbeitseinsatz ist die A 1-Bescheinigung rechtzeitig einzuholen. Die Bescheinigung sollte von jedem Arbeitnehmer und bei jedem Auslandseinsatz mitgeführt werden. Sollte ein Nachreichen erforderlich sein, sollte dies unverzüglich erfolgen, bevor die Rechtsmittelfrist für etwa verhängte Sanktionen abläuft. Fehlt eine A 1-Bescheinigung, sollte diese baldmöglichst eingeholt werden, damit der Vorteil der Rückwirkung auch greifen kann. Im Konfliktfalle sollte anwaltliche Hilfe eingeholt werden (Erreichbarkeit der Verfasser: 0176 4443 8276 oder 0160 9914 5174).

17. Juni 2019

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