Milosz Matuschek

Voltaires Erben 2.0: Warum das Intellectual Dark Web so sehr fasziniert

Intellektuelle Nonkonformisten um Dave Rubin und Joe Rogan haben eine alte Tugend neu entdeckt: Endlosgespräche mit furchtlosen Zeitgenossen wie Jordan Peterson oder Eric Weinstein über kontroverse Themen, Thesen und Trends zu führen. Live und ungeschnitten, also unverfälscht. Das neue Format kommt an.

Die «Zauberflöte» Mozarts von 1791 gehört weltweit zu den meistgespielten Musiktheaterstücken – und ist sie nicht zu Recht gerade das Stück der Stunde? Sie schult die eigene Urteilskraft. Nach initiationsartigen Prüfungen stellt sich die gute Königin der Nacht schliesslich als böse heraus, während der angeblich tyrannische Zauberer Sarastro sich als Aufklärer und Humanist erweist. Weiss wird Schwarz, und Schwarz wird Weiss. Ganz ähnlich ist es heute auch in der Diskussion um das sogenannte Intellectual Dark Web, das für manche anscheinend als Hort des bösen und gefährlichen Denkens gilt. Tatsächlich ist die neue digitale Plattform intellektueller Nonkonformisten eher das Licht am Ende des Tunnels als die neue Finsternis, während der traditionelle Apparat der Sinnvermittlung zunehmend stottert.

Es gab nie nur einen Ort, an dem Realität verhandelt wird. In dunklen Zeiten geschah der Ideenaustausch oft in Geheimgesellschaften, wie sie die «Zauberflöte» mit Anleihen aus ägyptischen Mysterien und der Freimaurerei thematisiert. Das Intellectual Dark Web hingegen ist eine Fortführung des für alle sichtbaren Marktplatzes der Ideen und folgt einem steigenden Bedürfnis, über kontroverse Positionen ohne gouvernantenhafte Einhegung zu diskutieren, also ausserhalb des akademisch-kulturbetrieblich-medialen Komplexes.

Den augenzwinkernd gemeinten Begriff prägte der Mathematiker Eric Weinstein, der für den Investor und Philosophen Peter Thiel arbeitet. Zum Feindbild jedenfalls taugen die Protagonisten, wie dessen Bruder Bret Weinstein, Sam Harris, Jordan B. Peterson, Joe Rogan, Ben Shapiro, Jonathan Haidt, Christina Hoff-Sommers, Ayaan Hirsi-Ali und einige mehr, höchstens für diejenigen, die sich in der eigenen Geschäftsgrundlage der Diskurshoheit angegriffen fühlen.

Die bösen Buben und Mädchen

Unterkomplex ist schon jede monolithische politische Einordnung in einem Links-rechts-Schema. Selbst wenn man eine gewisse Grundierung des klassischen Liberalismus bezüglich der Haltung zur freien Rede erkennen mag, sind Schattierungen von links über konservativ bis zu libertär ebenso vorhanden wie Differenzen in der Sache, die unter denkenden Menschen naturgemäss dazugehören. Wo kein Disput ist, da ist auch kein Leben (und kein Spass).

Wenn es überhaupt eine Klammer für diese Gruppe gibt, dann dürfte diese jenseits der Liebe zur freien Rede in der Haltung zu suchen sein, wonach die gleichen Spielregeln für alle gelten sollen. Die meisten würden wohl der von Friedrich August von Hayek in seiner «Verfassung der Freiheit» formulierten Haltung zustimmen, dass Gerechtigkeit in freien Gesellschaften eine Sache von abstrakten Regeln und Prinzipien ist, niemals aber Ergebnis eines repressiven Interventionismus sein darf – egal, ob dieser von staatlicher Seite oder den Fürsprechern einer Öffentlichkeit kommt, die sich auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens berufen.

Jordan Peterson erklärte öffentlich, dass er sich nicht an ein damals neues kanadisches Gesetz (Bill C-16) halten wolle, das zu einer genderspezifischen Ansprache von Transpersonen verpflichtet. Bret Weinstein widersetzte sich einem «Tag der Abwesenheit» von Weissen am Evergreen-College, wo er Evolutionsbiologie unterrichtete, weil er diese Form des symbolischen «virtue signalling» selbst für eine Form des Rassismus hält. Inzwischen mussten seine Frau und er das College verlassen.

Aus dem Sündenfall ist inzwischen nicht nur eine Chance, sondern ein Industriezweig geworden: die Vertreter des Intellectual Dark Web erreichen auf Youtube-Kanälen wie «The Joe Rogan Experience», «Rubin Report» oder «Rebel Wisdom» ein Millionenpublikum und stellen beiläufig bisherige Annahmen über das Zuschauerverhalten auf den Kopf. Unfreiwillig unterstützend fungieren dabei viele Mainstream-Medien, die der Gruppe durch Dämonisierung noch mehr Zulauf bescheren.

Der Erfolg des Web hängt ganz entscheidend von der Art und Weise der Diskussion sowie den behandelten Themen ab. Nahezu alle Denker zeigen eine enorme Bereitschaft zu assoziativem, holistischem Denken über akademische Fachgrenzen hinaus; neben der Breite geht es gerne auch einmal in die Tiefe von Themen wie Identitätspolitik und Political Correctness, Paläo-Diät, Psychedelika, Bitcoin oder den Prozess der Selbstwerdung bei C. G. Jung.

Es sind nicht zufällig oft Themen, die im Mainstream nur selten in dieser Ausführlichkeit behandelt werden, was zeigt, dass ein Ideenmarkt eben dann am attraktivsten ist, wenn die getauschte Ware ungleichartig ist. Gleichartiges zu tauschen, wie etwa einen Geldschein, ergibt keinen Sinn. Nach diesem Prinzip werden orthodoxe «Debattenräume» jedoch heute gerne gestaltet, man sieht es im deutschsprachigen Raum beispielhaft an Sendungen wie «Neo Magazin Royal» von Jan Böhmermann, wo der Talk mit den Gästen geringe Erwartungen an Überraschungen weckt.

Das Intellectual Dark Web ist zu dem Ort geworden, wo heute der kritische Rationalismus am breitenwirksamsten praktiziert wird, frei nach Popper: «Ich weiss es nicht, du weisst es nicht, aber zusammen nähern wir uns vielleicht etwas, was man Wahrheit oder Erkenntnis nennen kann.» Erkenntnisgewinn als Reise; Protagonisten, die sich als Seilschaft bei einer intellektuellen Höhenkletterei verstehen und den Zuschauer dabei nicht bevormunden – offenbar fehlte ein solches Format in Zeiten von Proporzdenken und Scripted Reality und stillt eine Sehnsucht des Publikums.

Es braucht Polarität damit Neues entsteht

Wann war Intellektualität zuletzt so sexy? Der Erfolg der Sendungen zeigt: Das Bedürfnis an intellektuellen Inhalten, die argumentativ fundiert und unterhaltsam sind – was einen gewissen Resonanzboden an klassischer Bildung voraussetzt –, ist weitaus höher, als von vielen Medienmachern in den Rundfunkanstalten angenommen wird. Die stellen sich ja häufig auf den Standpunkt, man dürfe das Publikum in Sachen Komplexität nicht überfordern. So geben sie sich zuschauernah, in Wahrheit aber praktizieren sie eine subtile Form von Zynismus. Das Publikum ist für sie bloss eine Ansammlung von kleinen Kindern, die belehrt werden sollen (und wollen).

Damit Neues entsteht, braucht es seit je Polarität. Die Vernetzung echter Debattenräume ist in Zeiten des Internets jedoch nie wirklich geglückt, sondern hat zur Ausbildung von Echokammern und tribalistischen Armeen der Denkbevormundung geführt. Das Intellectual Dark Web nährt die Hoffnung, dass eine neue Form der Erkenntnissuche durch mehrschichtige Erklärungsmuster massentauglich sein könnte.

In der Ideengeschichte mussten marginalisierte Denker ihre als gefährlich eingestuften Ansichten oft verklausulieren oder in Rückzugsorte retten. Der Historiker Martin Mulsow («Prekäres Wissen») bezeichnet es als «Harpokratismus», wenn der Weise auf Angriffe schweigt und sich zurückzieht. Das Intellectual Dark Web ist maximal antiharpokratisch, da es marginalisierte Ansichten aus engeren Debattenräumen von Akademien oder Medien in den breitestmöglichen des Internets verlagert hat, was beweist, dass Zensur und Deplatforming in heutigen Zeiten ein Bumerang sind. Das neue Format ist dabei kein Rachefeldzug der Geschmähten, sondern fordert Strukturen und Institutionen heraus, die ihrer ureigenen Aufgabe nicht mehr nachkommen: für eine echte Vielfalt von Positionen zu sorgen.

Hier schliesst sich der Kreis zu Mozart: Auch dem marginalisierten Geheimbund der Aufklärer in der «Zauberflöte» geht es letztlich nur um Zugang zu Erkenntnis und um Instruktion durch Vorbild, wenn es in der Arie des Sarastro heisst: «In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht.»

Dies ist die gekürzte und bearbeitete Fassung eines Artikels, der am 16.05.2019 im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist.

23. Mai 2019

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