Brexit: „Ja seid Ihr denn von Sinnen?“

Berlin - Ich bin kein Brexit-Experte. Warum also sollten Sie meinen Text lesen? Dies, weil ich als Selbständiger mein Geld mit und im europäischen Ausland verdiene und mein Interesse in Sachen Brexit einzig und allein ist, daß die Bedingungen für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Großbritannien so gut bleiben, wie sie sind. Weil ich weiß, daß das Interesse der Wirtschaft kein anderes sein kann. Dies auch, weil es höchst Zeit ist, um Unternehmer, Selbständige, Unternehmerverbände und Wirtschaftslobbyisten dazu aufzurufen, ihre Stimme zu erheben und sich in die Brexit-Verhandlungen einzumischen.
Von Seiten der Britischen Regierung gab es keine neuen Vorschläge, heißt es nach dem Brexit-Gipfel am 17. Oktober 2018. Wo aber sind die „neuen Vorschläge“ der EU zu den Brexit-Verhandlungen? Da hört man nur, britische Positionen seien unannehmbar.
Die EU erweist sich bei den Brexit Verhandlungen als das, was sie völkerrechtlich ist, als Veranstaltung der Regierungen, als Regierungsclub. Und so verhält sie sich auch: Wer in diesem Club nicht mehr mitspielen will, soll auch nicht die Vorteile der Clubmitgliedschaft haben. „Keine Rosinenpickerei!“, tönt es immer wieder. Ja, aber haben die Regierungen nicht die Interessen ihrer Bürger zu vertreten? Interessiert es den Bürger wirklich, ob Großbritannien in der EU Rosinen pickt? Ist es dem Bürger und vor allem der Wirtschaft nicht eher egal, ob Großbritannien Mitglied im Club bleibt oder nicht, wenn nur die Bedingungen für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen so gut bleiben wie sie sind, wenn nur – Brexit hin oder her – keine Arbeitsplätze gefährdet werden?
Geht es um EU-Clubinteressen oder um die Interessen der Bürger und der Wirtschaft?
Bei den Verhandlungen bestehe weiterhin die Chance, „ein gutes Abkommen hinzubekommen“, wird verlautet. Beide Seiten hätten „guten Willen“ gezeigt und es sei wohl sinnvoll die Übergangsfrist nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU am 29. März 2019 um 23 Uhr Englischer Zeit zu verlängern. Kennen wir das nicht schon bei der Euro-Krise („Zeit kaufen“), bei der Rettung Griechenlands vor den Staatbankrott, bei der Flüchtlingskrise? Ist die EU nur noch in der Lage, Probleme über eine lange Bank zu schieben, ohne sie je zu lösen? Wenn sich die Mitglieder des Clubs mit einem ausscheidenden Mitglied nicht darüber einigen können, wie anschließend die Beziehungen mit dem künftigen Ex-Clubmitglied gestaltet werden sollen, ist es wohl an der Zeit, an die allgemeinen Geschäftsgrundlagen des betreffenden Clubs zu erinnern. Die Regierungen, die den Club EU bilden, haben selbstverständlich Eigeninteressen, z.B. daß der Club als solcher nicht auseinanderfliegt. Aber die Regierungen sind nicht der Souverän, sondern das Volk, das sie gewählt hat. Ist es für die Wähler wichtiger, alles zu tun, daß der Regierungsclub auch bei Ausscheiden eines der Mitglieder so bleibt, wie er ist, oder ist es wichtiger, alles zu tun, daß die guten Beziehungen zum ausscheidenden Clubmitglied so gut bleiben, wie bisher? Stellt man die Frage so, dürfte die Antwort klar sein: Nichts, aber auch garnichts rechtfertigt ein Handeln der in der EU vereinigten Regierungen, das die Beziehungen zu Großbritannien verschlechtert. Vor allem ist es nicht zu rechtfertigen, daß in irgendeiner Weise die Bedingungen für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Großbritannien verschlechtert und dadurch auf beiden Seiten des Ärmelkanals zigtausende Arbeitsplätze gefährdet werden. Daher war es ein schwerer Fehler, es abzulehnen, parallel mit den Austrittsverhandlungen über die Gestaltung der künftigen Beziehungen Großbritanniens mit der EU zu verhandeln. Daß die künftigen Beziehungen bei den Austrittsverhandlungen nicht ignoriert werden können, zeigt sich nun unübersehbar an der Grenzfrage in Irland.
Probleme auf die lange Bank schieben bringt nichts und schadet viel
Die EU-Verhandler präsentieren der britischen Regierung ein Dilemma: Entweder Grenz- und Zollkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland oder zwischen Nordirland und der Britischen Insel. Die ersichtliche Unwilligkeit der EU, sich auf vernünftige Kompromisse mit Großbritannien einzulassen, kann zu einem wirtschaftlichen Desaster in Europa führen. „Brüssel“ setzt anscheinend darauf, die Britische Premierministerin in eine Zwangslage zu treiben: Entweder sie stimmt dem Austrittspapier der EU zu oder sie steuert auf einen kalten Brexit ohne irgendwelche Regelungen hin. In beiden Fällen wird sie wohl dafür keine Mehrheit im Unterhaus bekommen und so hofft man, daß es zu einer erneuten Volksabstimmung kommt, die sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU entscheidet. Die damit erzeugt Unsicherheit wäre mittelfristig für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und den anderen EU-Ländern katastrophal, und zwar insbesondere für die deutsche Wirtschaft. Es ist wohl an der Zeit, Richtung Brüssel zu rufen: „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Wir brauchen schnell ein Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU!“ Das auszuhandeln kann doch wohl nicht so schwer sein! Die Papiere des CETA- und des TTIP-Abkommens liegen für „Blaupausen“ bereit!
Wo bleibt die Kritik an der Verhandlungsführung der EU?
Wo sind die Stimmen der deutschen Wirtschaft, die geltend machen, daß man unter keinerlei Umständen eine Verschlechterung der Bedingungen für den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Großbritannien will? Wieso hört man sie nicht? Haben unserer Unternehmer und Wirtschaftsverbände nichts dazu zu sagen? Wieso dringen in Fragen Brexit kritische Stimmen der Wirtschaft kaum in die veröffentlichte Meinung vor? Solche Stimmen Richtung Brüssel sind inzwischen zu hören, interessanterweise von Brüssel-Korrespondenten, welche die Verhandlungen, die ja eigentlich eher Nicht-Verhandlungen sind, aus nächster Nähe beobachten:
Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Hendrik Kafsack (Brüssel): Irrationale EU
Neue Züricher Zeitung von René Höltschi (Brüssel): Die Brexit-Verhandlungen stecken fes
.Der SPIEGEL untertitelt seinen Kommentar mit „Die Briten haben bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU in fast allen Punkten nachgeben müssen. Es ist an der Zeit, ihnen entgegenzukommen“ (Peter Müller: Rosinen nicht im Angebot. In: DER SPIEGEL Nr. 43 / 20.10.2018, S. 105)
23. Oktober 2018